Die 49 jährige Abteilungsleiterin wagt den Sprung in ein neues Leben. Sie ist zierlich, sportlich, stets passend gestylt, charakterstark, durch und durch positiv denkend und eine ansteckende Frohnatur. Zur Feier ihres 50. Geburtstags wird sie den Gästen eine überraschende Neuigkeit präsentieren. Sie wird am Vormittag zum Standesamt schreiten und in die 2. Ehe einfahren.
Den Mann hatte sie zwei Jahre zuvor auf einer Dating Plattform kennengelernt. Es war nicht die Liebe auf den ersten Klick – im Gegenteil – anfangs erschien er ihr seltsam bieder. Aber beide mochten Unternehmungen und lernten sich über die gemeinsam verbrachten Ausflüge näher kennen. Er hatte nach der Scheidung das Haus behalten und kam im Alltag zweckmäßig zurecht. Im Haus war reichlich Platz und an ihrem 50.Geburtstag würden die Gäste nur noch einen Namen am Klingelschild lesen.
Sie hätte des Schicksals feine Botschaften eher wahrnehmen können.
Noch in der Kennenlernphase erkrankte er schwer – wurde behandelt und schließlich geheilt – aber die Macke fürs Leben blieb. Und ihr Mitgefühl für jedes seiner ständig wechselnden Zipperlein war ihm auf ewig sicher.
Man verlässt doch den frisch Erbeuteten nicht in schweren Zeiten – die rosarote Brille hielt am Anfangszauber fest und ihr helfersyndromhaftes Naturell hätte keine andere Entscheidung zugelassen. Was sagte wohl der Verstand?
Die Stimme des Teufelchens auf der linken Schulter bleibt ihr unvergesslich im Ohr.
Und heute – 5 Jahre nach der Hochzeit? Sie hat 8 kg zugenommen, die Haare hängen strähnig vom herausgewachsenen Ansatz. Er schaut nach links, sie geht nach rechts. Der Alltag verläuft alltäglich. Seinem angstbesessenen Leben begegnet sie eindeutig. Es herrscht eine schwindelnde Verwirrung im Kopf – Schmerzfäden durchziehen Nacht für Nacht ihre Beine – dafür hat sie Tabletten. Und es ist das Alter. Denn krank ist nur er.
Auf der Homepage der Firma, in die sie mittlerweile gewechselt ist, gibt es Mitarbeiterfotos. Ihres ist 4 Jahre alt – sie ist zierlich, sportlich, stets passend gestylt und die Frohnatur scheint ihr aus dem Gesicht zu springen. Aber das Spiegelbild?
Sie erkennt den Verfall, dessen Ursache noch nicht. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Und so geht das Leben weiter im alltäglichen Alltag bis zur schmerzverzerrten Unscheinbarkeit. Fünf Jahre und ein neuer Mann…
Verfall
