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Das Mädchen am Zaun

Jeden Morgen geht er bei Wind und Wetter die Runde mit dem Hund- ein wunderschöner Labrador – dunkelbraun, wohl erzogen. Der Mann von gegenüber – schätzungsweise Mitte 40 – groß, schlank, schlechte Haltung, eingefallene Schultern und langweilig gekleidet. Bieder, Altherrenstil.

Er wohnt mit seiner Familie im Erdgeschoss, Dreiraumwohnung, kleiner Garten – umzäunt wegen des Hundes. Zwei Sonnenschirme, Gasgrill, Plastiktruhe für die Sitzpolster der Gartenbänke, Plastikklettergerüst und Minisandkasten für die Töchter.  Er ist für die Sträucher und Pflanzen zuständig, das Gießen, Verschneiden und das Einsammeln der Spielzeuge. Die kleinere Tochter ist gut ein Jahr alt, die ältere vielleicht drei. Eigentlich haben sie drei Kinder, das erste verstarb kurz vor der Geburt im Bauch. Gleich nach dem Umzug in diese neue Wohnung – dort sollte die Familie entstehen. Der Hund war zuerst da – das mit dem ersten Baby wurde nichts. Das KInderzimmer wird fertig gewesen sein.  Der Mann von gegenüber und seine schöne blonde Frau waren kurz vor Weihnachten eingezogen – einen Tag nach der Wohnungsübergabe – sie waren die ersten in der neu errichteten Wohnanlage. Er ist Arzt – alles war perfekt. Das Kind konnte aber auch er nicht retten. Das Ganze ist nun viereinhalb Jahre her. Kind 2 und 3 sind süße blonde Mädchen – hinter dem Zaun mit dem Hund – auf dem Plastikklettergerüst und im Sandkasten. Vor dem Zaun all die anderen Kinder der Wohnanlage – die Dreijährige überblickt von ihrem Klettergerüstposten den großen Innenhof, die spielenden Kinder mit  den Bällen, den Rollern, Rädern und Styroporfliegern. Sie winkt und schaut und lacht auch manchmal, die älteren Mädchen rufen ihr manchmal etwas zu. Lucy heißt der Hund, aber die Dreijährige? Oder die jüngere Schwester?

Nachdem Tod des Babys sah man den Mann von Gegenüber und die blonde Frau selten – sie gingen mit dem Hund- morgens er allein, mittags sie, am späten Nachmittag beide zusammen – gleich nachdem er von der Arbeit gekommen war. Zum Sommerfest im Hof waren sie nicht da  – vorher hatten sie einer Nachbarin von dem Verlust des Kindes erzählt – es sprudelte nur so aus ihnen heraus – mitten auf der Straße – dann wieder Stille. Die dickbäuchige Zeit der zweite Schwangerschaft fiel auf den Herbst – keiner sah es unter den gefütterten Jacken- ,  Entbindung zwischen Weihnachten und Silvester- früh morgens stand der Rettungswagen vor der Tür und an Silvester sah man ihn durch das Fenster am Tisch sitzen, eine Babywiege daneben.

Seitdem gingen sie die späte Nachmittagsrunde zu dritt mit Hund. Als die kleine Schwester geboren war, durfte die Dreijährige dann in den Kindergarten – aber noch immer nicht in den Innenhof. Sie spielt mit dem Hund – zieht ihm am Schwanz, heb dessen Ohren an – manchmal fliegt ein Ball über den Zaun – dann winkt sie und eines der Hofkinder wirft ihn zurück.

Der Mann von gegenüber grüßt immer freundlich – lächelt, schaut aufmerksam nach anderen Kindern, die Blicke der blonden Frau sind ausweichend – überheblich wirkend aber eigentlich angstgebeutelt und tief traurig. Sie hat drei Kinder geboren – nur zwei können alle anderen sehen – manchmal über den Gartenzaun oder während der Hunderunde.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Petra

    Schöne Geschichte – Danke Dir.

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